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SLIME – Hier und Jetzt

Kein anderes Deutschpunk-Album wurde in diesem Jahr mit so viel Spannung erwartet wie die neue SLIME-Platte. Der Grund dafür ist relativ simpel, denn die im Jahre 2009 erfolgte Wiedervereinigung der vielleicht wichtigsten Punk-Band Deutschlands ist bis heute bei vielen umstritten. Die Hauptkritikpunkte drehen sich dabei in erster Linie um die inzwischen fehlende (zumindest von vielen unterstellte) Glaubwürdigkeit der Band, gepaart mit dem immer wiederkehrenden Vorwurf, den eigenen Legendenstatus für ein paar (tausend) Euro leichtfertig zu verhökern. Dass der ehemaliger Schlagzeuger Stephan Mahler bei der Reunion nicht mitziehen wollte, war weiteres Wasser auf den Mühlen der Kritiker, zumal sich dieser in der Vergangenheit auch für einen maßgeblichen Teil der oftmals hochpolitischen SLIME-Texte verantwortlich zeigte. Unter diesem Aspekt geriet auch das 2010 erschienene Album „Sich fügen heißt lügen“ zu einer Art lyrischen Offenbarungseid, hat die Band hier doch mangels eigener kreativer Ergüsse ausschließlich auf Texte des anarchistischen Dichters Erich Mühsam zurückgegriffen. Gewisse Zweifel ob der Qualität des neuen Werkes waren anhand dieser Vorgeschichte also durchaus berechtigt.
Um eines vorweg zu nehmen: SLIME geben sich auch im Jahr 2017 noch sehr politisch und kämpferisch, haben es sich aber auch diesmal nicht nehmen lassen, beim Schreiben der Texte zumindest teilweise auf externe Hilfe zurückzugreifen. So haben Max Lessmann (VIERKANTTRETLAGER), Andreas Hüging (war unter anderen bei der Band ELF dabei) sowie der frühere BETONCOMBO-Gitarrist Frank Nowatzki in der einen oder anderen Form an den Texten mitgearbeitet. Da „Hier und jetzt“ auch generell ein recht vielseitiges Album geworden ist, haben wir uns dazu entschieden, diese Besprechung im „Track-by-Track“- Verfahren vorzunehmen und jedes Lied einzeln unter die Lupe zu nehmen. Los geht´s!

„Unsere Lieder“: Dieses Lied erschien bereits einige Wochen vor dem Release-Date als limitierte Vinyl-Single, wobei ich die Entscheidung, ausgerechnet dieses Stück auszukoppeln, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen kann, denn es gehört meiner Meinung nach zu den schlechtesten Tracks des Albums. Textlich geht es darum, dass die Inhalte der alten SLIME-Songs leider immer noch aktuell sind. Musikalisch hingegen lässt das Stück die Energie und Aggressivität alter Tage komplett vermissen und erinnert vielmehr an die Ergüsse des früheren Projektes RUBBERSLIME, welches diverse SLIME- und RUBBERMAIDS-Mitglieder im Jahre 2003 zwischenzeitlich mal ins Leben gerufen hatten. Hier ist noch deutlich Luft nach oben.

„Brandstifter“: Nach dem etwas enttäuschenden Einstieg schafft es der zweite Song glücklicherweise, im wahrsten Sinne das Feuer zu entfachen. Musikalisch geht es wieder flotter zur Sache, und der Refrain überrascht mit typischen BAD RELIGION-Chören. Der Text ist eine Kampfansage an diejenigen, die aus dem Hintergrund nationalistische und fremdenfeindliche Stimmungen schüren. Wie beispielsweise die AfD, aber um die geht es eigentlich erst im nächsten Song.

„Sie wollen wieder schießen (dürfen)“: Auch diesen Song kennt man bereits von einer vorausgegangenen Single, und im Grunde gilt für mich noch immer das, was ich in meinem damaligen Review dazu geschrieben habe. Auch über ein Jahr später finde ich das Stück immer noch überragend, und es gehört für mich definitiv zu den Highlights des Albums.

„Patrioten“: Ein Rap-Stück auf einem SLIME-Album?! Bis vor kurzem undenkbar, aber nun haben sie es tatsächlich getan. Sänger Dicken versucht sich am Sprechgesang und bekommt dabei professionelle Unterstützung von SWISS und IRIE RÉVOLTÉS-Mitglied Pablo. Doch mal ehrlich – musste das wirklich sein? Der Song treibt den geneigten Punk-Hörer an die Grenze der Fremdscham und wirkt so, als würde sich die Band krampfhaft eine Verjüngungskur verpassen wollen, um auch bei der Smartphone-Generation fleißig Facebook-Likes zu sammeln. Schnell weiter zum nächsten Lied…

„Banalität des Bösen“: Ein Lied gegen die ganzen „Ich bin ja kein Nazi, aber…“-Deppen da draußen. Musikalischer Durchschnitt, wobei sich der Refrain allerdings ziemlich hartnäckig im Ohr festsetzt. Nerd-Fact 1: Rodrigo Gonzales spielt in diesem Lied Gürteltiergitarre – was auch immer das sein mag. Nerd-Fact 2: Dies ist bereits der zweite Song in der SLIME-Historie, in dem der NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann Erwähnung findet. Ist der dadurch nun so etwas wie ein Promi? Ich hoffe nicht…

„Hier und jetzt“: Normalerweise gehört ja der Titeltrack eines Albums zu dessen stärksten Liedern, doch in diesem Fall ist das Gegenteil der Fall. „Hier und jetzt“ entpuppt sich nämlich als grausame Stadionrock-Ballade, die selbst die TOTEN HOSEN nicht schlechter hinbekommen hätten. Bleibt zu hoffen, dass die Nummer niemals auf einer CDU-Wahlveranstaltung gespielt wird.

„Die Stummen“: Hier drücken SLIME zum Glück wieder kräftig aufs Gaspedal. Ich möchte sogar behaupten, mit „Die Stummen“ erreichen SLIME kurzzeitig wieder „Schweineherbst“-Niveau. Nicht nur musikalisch, sondern auch vom Text her: „Hinter denen, die salutieren, stehen die, die es akzeptieren. Und aus denen, die es dulden, werden die, die es mitverschulden“. Eine klare Ansage an diejenigen, die bei rechtsradikalen Umtrieben tatenlos zu- oder wegschauen. Ob 1992 in Rostock-Lichtenhagen oder 2015 im sächsischen Freital.

„Ernie und Bert in Quantanamo“: Für SLIME ist es eher ungewöhnlich, ein ernstes Thema in einen hochgradig sarkastischen Text zu verpacken. Hier versuchen sie es einfach mal, und nach anfänglicher Skepsis bin ich nach mehrmaligem Hören letztendlich mit dem Lied doch noch warm geworden. Aus meiner Sicht eines der besseren Stücke dieses Albums.

„Let´s get united“: Und die nächste Überraschung folgt auf dem Fuße, denn auch ein Streetpunk-Song mit Unity-Bezug hätte man von SLIME nicht unbedingt erwartet. Dazu bringen Gastsänger von LOS FASTIDIOS und THE WAKES internationales Flair in das Stück. Und als wäre das noch nicht genug, wurden auch noch eine Mundharmonika und ein kompletter Kinderchor im Lied untergebracht. Kneif mich mal bitte einer…

„Die Geschichte des Andreas T.“: In diesem Lied wird die Story des Verfassungsschutz-Mitarbeiters erzählt, der während des NSU-Mordes in einem Kasseler Internetcafé anwesend war, aber angeblich nichts von den zeitgleichen Vorgängen in denselben Räumlichkeiten mitbekommen haben will. Eine unglaubliche bzw. unglaubwürdige Geschichte, die zahlreiche Ungereimtheiten enthält und wie so viele weitere Vorgänge im NSU-Komplex bis heute nicht aufgeklärt wurde. Insofern ist dieses Lied alleine schon vom Thema her extrem wichtig, denn es mahnt die in vielerlei Hinsicht zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit dem Auffliegen des so genannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ an.

„Spinner“: Ballade Nummer 2 auf diesem Album. Zum Glück nicht so schlimm wie der bereits erwähnte Titeltrack, aber auch nicht so wirklich überzeugend. Könnte stilistisch auch vom „Viva la Muerte“-Album stammen, um mal im SLIME-Kontext zu bleiben.

„Der siebte Kontinent“: Bereits beim ersten Mal hören hat mich dieser Song total an das „V8“-Album von ABWÄRTS erinnert. Das gilt sowohl für die Musik, als auch für den Text. Also schnell mal die besagte LP aus dem Plattenregal gekramt, und siehe da: Gitarrist Elf hat zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich bei ABWÄRTS Gitarre gespielt! Offenbar hat sich hier jemand von seiner eigenen Vergangenheit inspirieren lassen. Klingt nicht nach SLIME, ist aber ansonsten ein solider Song.

„Ich kann die Elbe nicht mehr sehen“: Auch hier ein Déjà-Vu Erlebnis, denn der Anfang dieses Liedes erinnert sehr stark an den Beginn des wohl bekanntesten SLIME-Stückes „Deutschland“. Inhaltlich richtet er sich hingegen nicht gegen Deutschland, sondern gegen Hamburg, beziehungsweise den dort grassierenden Gentrifizierungswahn. Ansonsten gilt: Ein paar Offbeats, obendrauf noch eine nette Bläser-Hookline bei, und fertig ist der Quoten-Ska-Punk-Song.

„Bekenntnis zu einem Paradoxon“: Ähnlich wie bereits „Die Stummen“ hätte dieser Song auch gut auf die „Schweineherbst“-LP gepasst. Kraftvolle, irgendwie bedrohlich klingende Gitarren, ein griffiger Polit-Text und mit 2:38 Minuten die ideale Länge für einen Punk-Song. Sehr schön!

„Schöne neue Welt“: Ein Rundumschlag gegen den modernen Überwachungsstaat und die Schattenseiten der Digitalisierung. Musikalisch hingegen eher gewöhnungsbedürftig, zumal das Stück ungewohnt poppig ausfällt.

„Für alle Zeit“: Zum Abschluss wird noch einmal kräftig gegen rechts ausgeteilt. Und auch unabhängig vom Text weiß das Lied zu gefallen. Zwar wirkt der Übergang zwischen Strophe und Refrain nicht so ganz rund, aber ungeachtet dessen stellt der Song einen guten Abschluss des Albums dar.

Fazit: Auf „Hier und jetzt“ gibt es ein paar richtig gute Songs, viel Mittelmaß, aber leider auch 2-3 Ausfälle. Insgesamt klingen SLIME deutlich rockiger als früher, und man hat irgendwie das Gefühl, dass die Hamburger zwanghaft modern klingen wollen. Inwiefern das nun authentisch ist oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Unstrittig ist hingegen, dass sich auch nach dieser Veröffentlichung die Geister in Sachen SLIME-Reunion weiterhin scheiden werden.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.