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NEONSCHWARZ – #Stadtrundfahrt

Hamburg, 08. April 2016. Eigentlich sollte es ein entspannter Ausklang der Arbeitswoche werden, doch da hatte ich die Rechnung ohne Jens gemacht. Unser findiger Chefredakteur hat über geheime Kanäle spitzbekommen, dass unsere Lieblings-Rapcrew NEONSCHWARZ eine mysteriöse Stadtrundfahrt plant, und folglich hatte er auch die glorreiche Idee, mich als Maulwurf bei diesem Trip einzuschleusen, um unseren Lesern eine exklusive Insiderstory zu liefern. Nun ja, wer Jens kennt, der weiß auch, dass er bereit ist, für ein paar zusätzliche Klicks seine Seele an den Teufel zu verkaufen – aber eine Stadtrundfahrt begleiten? Was soll es denn von dort bitte Großartiges zu berichten geben? Als Jens jedoch damit drohte, dass ich im Falle einer Teilnahmeverweigerung die nächste KRAWALLBRÜDER-CD besprechen müsse, beugte ich mich schließlich meinem Schicksal und fand mich pünktlich zur vorgegebenen Uhrzeit an der Busschleife neben dem Dom-Eingang an der Feldstraße ein. Was dann geschah, könnt ihr dem nun folgenden Protokoll entnehmen. Viel Spaß!

12:35 Uhr: Während der Motor des obligatorisch roten Doppeldeckerbusses noch im Standby-Modus stoisch vor sich hinbrummt, hat sich bei bestem Frühlingswetter bereits eine bunte Mischung aus HipHop-Heads, Antifa-Kids, Bauwagen-Punks und Pauschal-Audiolith-Fans eingefunden. Im Smalltalk wird versucht, von den Mitreisenden irgendwelche Informationen über den geplanten Ablauf der nächsten zwei Stunden in Erfahrung zu bringen. Irgendwie weiß niemand Genaues, aber der Grundtenor lautete sinngemäß: „Irgendwas mit Saufen und Video“. Na, das kann ja heiter werden…

12:56 Uhr: Die reisefreudige Meute hat es sich auf dem offenen Oberdeck des Doppeldeckers bequem gemacht, die NEONSCHWARZ-Crew läuft durch die Reihe und verteilt Pfeffi, Jägermeister & Dosenbier. Audiolith-Chef Lars verkündet zunächst über das kratzig klingende Bord-Mikrofon die allgemein gültigen Verhaltensregeln: Man möge bitte darauf verzichten, den Bus abzufackeln, und das anfallende Leergut sei nach Möglichkeit in die dafür bereitgestellten Behältnisse zu entsorgen. Es folgen einige Informationen bezüglich der zu absolvierenden Tour, wobei sich Lars am Ende seines Vortrages noch darüber beklagt, dass er den Song „Doppeldeckerbus“ auf insgesamt 17 CD-Rohlinge brennen musste, damit dieser während der Tour auch entsprechend oft abgespielt werden kann. Hierbei tritt einmal mehr die stümperhafte Ahnungslosigkeit des Label-Diktators zu Tage, denn schließlich weiß jedes Kind, dass er das Lied auch einfach 17 Mal hintereinander auf einen (!) Rohling hätte packen können, um es entsprechend oft zu hören. Amateur…

13:00 Uhr: Endlich darf auch Stadtführer Wolfgang sich selbst sowie seinen Fahrer Horst vorstellen. Im Anschluss schallt dann zum ersten (aber gewiss nicht zum letzten) Mal der mit Spannung erwartete Burner-Track „Doppeldeckerbus“ aus den zahlreich vorhandenen Seitenlautsprechern.

„Setz dich hin, schnall dich an, wir fahren los, der Abgrund naht // Herzlich Willkommen auf der Neonschwarzen Stadtrundfahrt“

13:05 Uhr: Los geht die wilde Fahrt! MC Wolfgang ist sofort voll in seinem Element und rattert wie ein Maschinengewehr die an uns vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten runter. Das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis sollte zumindest den politisch Engagierten unter den Mitfahrern bekannt sein, ist dieses aus der Kaiserzeit stammende Gebäude doch in schöner Regelmäßigkeit eine beliebte Kundgebungsstation bei Anti-Repressions-Demos.

„Zu Ihrer Linken nun das Gängeviertel, Künstlerviertel, Blabla // Letztenendes sind wir hier, weil die Mieten unbezahlbar“

13:07 Uhr: Wenige hundert Meter weiter dann der erste Fauxpas unseres ortskundigen Sabbelbüdels: Am Gängeviertel erwartet Wolfgang offensichtlich eine gesteigerte Aufmerksamkeit seitens des vermeintlich desinteressierten Pöbels, denn immerhin werde es ja in dem Liedtext explizit erwähnt. Folglich möge man seiner Auffassung nach diesem historisch wertvollen Gebäude-Ensemble doch bitte etwas mehr Beachtung schenken. Dass die meisten der Anwesenden wahrscheinlich seit Jahren mehr oder weniger regelmäßige Besucher des (ehemals besetzten) alternativen Wohn- und Kulturprojektes sind und lieber etwas über ihnen bisher unbekannte Sehenswürdigkeiten in Hamburg erfahren möchten, kommt Wolfgang dabei offenbar nicht in den Sinn…

13:12 Uhr: Wolfgangs Drang, brandheißes Expertenwissen über unsere Heimatstadt zum Besten zu geben, ist nicht zu bremsen. „Zu eurer Linken seht ihr die Binnenalster!“ frohlockt er mit einem Anflug von Euphorie in der Stimme. In meiner Rechten befindet sich hingegen eine neue Dose Holsten, die meine komplette Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ist ja auch irgendwie Alster, nur halt ohne Limonade.

13:24 Uhr: Nachdem sich die Anwesenden anfangs eher in Zurückhaltung geübt haben, fallen nach und nach die Hemmungen und es wird verstärkt mitgerappt. Kein Wunder, denn nach geschätzten sechs Lieddurchgängen hat sich der Refrain mittlerweile so tief in die Gehörgänge der Anwesenden eingebrannt wie ein Brandmal in das Gesäß eines texanischen Longhorn-Rindes.

„Komm ich zeig dir unsere Stadt in einem Doppeldeckerbus // Durch die Gassen, durch den Dreck mit einem Doppeldeckerbus // Betonwüstensafari mit dem Doppeldeckerbus (Doppeldeckerbus, Doppel-Doppeldeckerbus)“

13:28 Uhr: Langsam ist es an der Zeit, den „offiziellen“ Teil dieses Betriebsausfluges hinter uns zu bringen. Für das anstehende Musikvideo sollen Marie Curry, Captain Gips und Johnny Mauser ihre jeweiligen Parts in traditioneller Playback-Manier an Bord unseres Partybombers performen. Dass dabei ausgerechnet das aus Lüneburg stammende Landei Johnny Mauser den heiligen Chefplatz einnimmt und seine Verse direkt in das (normalerweise dem Stadtführer vorbehaltene) Bordmikrophon kickt, nimmt Wolfgang mit finsterer Miene zur Kenntnis.

„Gucken Sie mal alle bitte links aus dem Fenster // St. Pauli, Kiez, Linke und Gangster“

13:43 Uhr: Pinkelpause am Michel! Direkt an dem beliebten Hamburger Wahrzeichen spuckt der Bus vor den Augen irritierter Touristen die wohl seltsamste Menschenladung aus, die man sich für eine Stadtrundfahrt vorstellen kann. Für die Reinigungsfachkraft der öffentlichen Toilette offenbart der überraschende Massenandrang zur Mittagszeit währenddessen ungeahnte Zusatzeinnahmen. Ein kleiner Tipp vom Blueprint-Finanzberater: Man munkelt, Panama soll so manch lukrative Anlagemöglichkeit in petto haben.

„Guten Tag da unten und auch Sie da oben sehen heute // An den schönsten Punkten leerstehende Bürogebäude“

14:01 Uhr: Vorbei am Astraturm, der eines von zahlreichen Negativbeispielen des Hamburger Gentrifizierungs-Wahnsinns darstellt, geht es als nächstes direkt auf den Kiez.

„Guck mal da, das Stadion // Das Viertel ist braun-weiß“

14:05 Uhr: Was für ein Timing! Just in dem Moment, als im mittlerweile zwölften Durchgang des Liedes eine Strophe verkündet, dass St. Pauli „braun-weiß“ sei, fährt der Bus an einem Tag einer bekannten HSV-Ultragruppierung vorbei. Bestimmt nur der berühmt-berüchtigte Vorführeffekt…

„Kaputte Fensterscheiben // Ja, hier wohnt die Polizei“

14:06 Uhr: Der Doppeldecker kommt direkt vor der Davidwache an einer roten Ampel zum stehen. Während Wolfgang noch versucht, auf den bundesweiten Bekanntheitsgrad der Polizeiwache und die Heile-Welt-Krimiserie „Großstadtrevier“ hinzuweisen, gehen seine verbalen Ausführungen zusehends in Pfiffen und Unmutsäußerungen der neonschwarzen Reisegruppe unter. Gerüchteweise sollen vereinzelt sogar obszöne Gesten in Richtung des Gebäudes beobachtet worden sein. Der vor zwei Jahren erfolgte perfide Versuch der Hamburger Polizei, einen angeblichen Angriff auf die Kiez-Wache herbeizuphantasieren, um den Stadtteil im Anschluss wochenlang als Gefahrengebiet auszurufen und alternativ aussehende Leute willkürlich zu schikanieren, ist den meisten Fahrgästen anscheinend nachhaltig im Gedächtnis geblieben.

14:08 Uhr: Ach, du Schreck, das Bier ist alle! An Bord macht sich langsam Panik breit. Darüber hinaus scheint sich Audiolith-Mogul Lars beim Brennen seiner CDs gehörig verschätzt zu haben, denn obwohl gerade einmal die Hälfte der Tour absolviert ist, wurde der Song „Doppeldeckerbus“ schon zum jetzigen Zeitpunkt 17mal durchgespielt, und alle seine mühevoll durchnummerierten Rohlinge waren somit bereits im Einsatz. Die Stimmung kippt merklich, und das Unternehmen Stadtrundfahrt droht in einem Fiasko zu enden.

14:17 Uhr: Nothalt! Mitten vor der Shell-Tankstelle an der Königstraße steigt Busfahrer Horst beherzt in die Eisen, blockiert die komplette rechte Fahrspur und betätigt unbeeindruckt vom restlichen Verkehr den Warnblinker. Der Label-Chef persönlich hüpft mit einem Gehilfen aus dem Gefährt, um kurze Zeit später mit mehreren frischen Paletten Dosenbier wieder aufzutauchen. Darüber hinaus entpuppt er sich als regelrechter Technik-Fuchs, indem er auf die glorreiche Idee kommt, den ersten Rohling auf gut Glück erneut im CD-Player des Busses zu versenken. Und siehe da: Offensichtlich lässt sich der Silberling entgegen aller Erwartungen ein zweites Mal abspielen! Wenn wir mit den übrigen sechzehn CDs genau so viel Glück haben, ist der Ausflug gerettet…

„Diese Tour umfasst kein Olympiastadion // Aber Pause mit Hafenblick“

14:30 Uhr: Pinkelpause reloaded. Diesmal wird das ehemalige Terminal der Englandfähre für einen urinalen Zwischenstopp auserkoren und die druckartige Entleerung unzähliger Blasen lässt den Wasserpegel der Elbe kurzfristig in eine Höhe schießen, wie es Hamburg zuletzt bei der großen Sturmflut im Jahre 1962 erlebt hat. Bevor Audiolith als Veranstalter für etwaige Hochwasserschäden zur Rechenschaft gezogen werden kann, suchen wir lieber schnell das Weite.

14:34 Uhr: Als wir am Hafenklang vorbeikommen, fängt der sympathische Typ links neben mir plötzlich an, von den vielen großartigen Konzerten zu schwärmen, die er dort schon gesehen hat. Auf meine Anmerkung hin, dass dort ja so gut wie nie HipHop-Shows laufen, entgegnet er, dass er von Hardcore-Konzerten spricht, denn HipHop interessiere ihn sowieso nicht. Auf die berechtigte Nachfrage, wieso er denn überhaupt an dieser Bustour teilnimmt, antwortet er empört: „NEONSCHWARZ sind natürlich eine Ausnahme, denn die sind ja mal richtig geil!“. Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

14:35 Uhr: Die Party hat sich derweil vom Oberdeck ins untere Stockwerk des Doppeldeckerbusses verlagert. Ein Teil der Leute tanzt ausgelassen und rappt dabei mittlerweile erstaunlich textsicher das meistgehörte Lied des Tages mit.

„Die Elbe ist noch nicht die Grenze, damit Sie´s begreifen // Landungsbrücken, kurzer Stopp mit quietschenden Reifen“

14:42 Uhr: Inzwischen befinden wir uns an den Landungsbrücken, quasi dem Mekka aller Hamburger Stadtrundfahrer. Aus den anderen Bussen neben uns ernten wir ungläubige und neidische Blicke junger Familienväter, die ihre kostbare Freizeit damit verbringen müssen, mit ihrer Frau und den nörgelnden Blagen dem Sightseeing zu frönen. Wie gerne würden sie jetzt ihr routinemäßig abgespultes Touri-Programm gegen wummernde Bässe und ein gut gekühltes Blechbrötchen tauschen! Doch die Chance ist vertan, denn die Ampel springt im nächsten Moment auf grün, und Horst drückt kräftig auf die Tube. In Hamburg sagt man „Tschüß!“.

14:57 Uhr: Der Bus trifft wieder am Ausgangspunkt der Reise ein. Die vorgegebenen Ziele des Trips wurden offensichtlich erfüllt: Der Pöbel ist betrunken, die Video-Sequenzen sind im Kasten, und der Bus wurde entgegen anfänglicher Befürchtungen nicht flambiert. Später am Abend wartet noch eine weitere Sehenswürdigkeit: Das Uebel & Gefährlich, wo NEONSCHWARZ zum Konzert bitten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bernd Cramer

Konzert-Junkie & Vinyl-Liebhaber. Schreibt über Musik, ohne zu Architektur zu tanzen.

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