You are currently viewing JAVVA – Ein guter Ort für Ehrlichkeit und Liebe

JAVVA – Ein guter Ort für Ehrlichkeit und Liebe

Das Debütalbum von JAVVA zählt für mich zu den besten Alben des Jahres, da es mit einer beeindruckenden Lässigkeit die verschiedensten Stile von Post-Hardcore über Jazz und Psychedelic bis hin zu Afrobeat miteinander kombiniert. Dass hier keine Laien am Werke sind, spürt man sofort. Im Interview mit blueprint berichten Lucas (Gesang, Orgel), Miko (Bass), Buki (Gitarre) und Bartek (Schlagzeug), warum sie sich eher als Architekten oder Designer sehen, von der Sehnsucht nach dem einfachen Leben und was das Ganze mit „Miami Vice“ zu tun hat.
(Go here to the english version of the interview.)

Gratulation! Ihr habt es mit Eurem Debütalbum zu unserem Album-Tipp geschafft und habt auch von anderen Magazinen und Zeitungen sehr gute Rezensionen einfahren können. Habt ihr das erwartet?
Lucas: Vielen Dank! Wir sind darüber sehr erfreut. Um deine Frage zu beantworten: Ja und nein. Nein, weil es schwierig ist, als unbekannte polnische Band so viele Reviews zu kriegen. Es ist großartig, dass sie meistens positiv, manchmal sogar enthusiastisch sind. Man muss dabei berücksichtigen, dass es tausende gute Bands überall in Europa gibt, und wir nur eine weitere sind, die versucht, außerhalb ihrer Heimat Beachtung zu finden. Deshalb sind wir glücklich über die große Resonanz. Ja, weil wir etwas gemacht haben, was wir in der Vergangenheit vernachlässigt haben: wir haben Kontakt zu Julien Fernandez von Five Roses Press, einer professionellen PR-Agentur, aufgenommen, die uns half, ein gutes Wort für JAVVA über den ganzen Kontinent zu verbreiten.
Miko: Wenn Du etwas Waghalsiges, Experimentelles, zugleich aber auch Leidenschaftliches wagst, kann man sich nie sicher sein, ob die Rezensenten und das Publikum es annehmen oder ablehnen werden. Vielleicht ist es vergleichbar mit einer Lotterie oder einem Glücksspiel, aber auch mit harter Arbeit, um anerkannt und von Leuten wahrgenommen zu werden, die das zu schätzen wissen. Hoffentlich behalten wir bei diesen Reviews das Glückslos.
Buki: Ja, ich habe das erwartet.
Bartek: Ich wusste von Beginn an, dass diese Band etwas Besonderes ist, weil es mir gelungen ist, sehr spannende Musiker am selben Ort zur selben Zeit zusammenzubringen. Nach kurzer Zeit war mir klar, dass wir bedeutende Musik machen, die die Leute mögen werden. Insofern habe ich diese Resonanz erwartet.

Ihr kombiniert mit Postcore, Afrobeat, Psychedelic und Jazz die verschiedensten Stile miteinander. Welches Genre habe ich übersehen, und welcher Szene fühlt ihr euch am meisten zugehörig? Ist es für einen Booker schwierig, euch mit anderen Bands zusammen zu buchen?
Lucas: Ich fühle mich vielen Musikszenen zugehörig. Als Hardcore-Punk-Kid habe ich viele harte Sachen gehört wie NATIONS ON FIRE, VISION OF DISORDER, SNAPCASE, HATEBREED, MADBALL, 25 TA LIFE, SCHIZMA und einige Alternative-Bands wie SHELLAC, PAVEMENT, SLINT oder JUNE OF 44. Danach habe ich viele Leute getroffen, die in einem Club namens Mózg abhingen, der sich in meiner Heimatstadt Bydgoszcz befindet. Im Mózg kannst Du sehr schräge, experimentelle Musik hören – Noise, von Pflanzen erzeugte Klanglandschaften, improvisierte orchestrale Musik, Free Jazz, Modern Contemporary Music und andere Stile, die man keinem Genre so recht zuordnen kann. Aktuell interessiere ich mich für jeden kranken Scheiß, den man im Internet oder auf physischen Tonträgern findet – koreanische Folkmusik, Speedcore, El Music, Grind-Dub, Post-Vapor-Wave, italianischen Trap usw.
Miko: Ich bin mit allen möglichen Formen von Experimental, Jazz, Klassik, Rap oder Rockmusik aufgewachsen. Mein Vater war mit lokalen Yass-Musikern befreundet. Yass ist eine Mischung aus schrägem Punk und Free-Jazz, der Anfang der Neunziger im Norden Polens geboren wurde. Meine Eltern schickten mich zum Geigenunterricht, aber es endete damit, dass ich mir ein paar Jahre später selbst Gitarre beibrachte. Und so wurde ich neben Jazz, Rock und Klassik zu einem Metal-Fan. Umso verdrehter, polyrhythmischer und akustisch brutaler es wurde, umso besser. Gleichzeitig interessiere ich mich aber auch ein wenig für experimentelle Electronic, Industrial und rituelle Musik. Aber natürlich kann nichts eine gute Melodie toppen! Vielleicht helfen unsere Melodien den Bookern, uns überall zu buchen, wo sie wollen.

Ihr habt vor JAVVA in mindestens elf verschiedenen Bands gespielt. Welche Stile waren das, und war das vielleicht sogar nötig, um so eine Band wie JAVVA entstehen zu lassen?
Lucas: Wir alle sind ziemlich hart arbeitende und sehr beschäftigte Musiker. Ich spiele in vier weiteren Bands. In ALAMEDA 5 spielen wir eher psychedelische, improvisierte und elektronisch orientierte Musik mit einer anderen Herangehensweise ans Drumming – beeinflusst vom 70s Jazz, Krautrock und afrikanischer Musik. T’EIN LAI ist eine Band, die hauptsächlich rhythmische Dance-Sachen spielt – lässt sich wohl am besten mit Techno, Heavy Ragga, Industrial und instrumentellem HipHop mit einer Prise Weirdness vergleichen. Dann gibt es noch eine Band namens DUŻY JACK, wo ich singe. Dabei handelt es sich um eine chaotische Hardcore-Noiserock-Band, sehr intensiv und laut wie Hölle. Die letzte Band ist MINA – ein kurzlebiges Black Metal/Industrial/Dub-Duo. Bisher haben wir erst eine Show gespielt, auf die wir aber stolz wie Hölle sind.
Miko: Ich habe an allen fünf Alben von ALAMEDA ORGANISATION mitgewirkt, wo eine weite Bandbreite an Gitarrenmusik vertreten ist. Darauf bin ich wirklich stolz, insbesondere auf die zweite und vierte Platte – zwei Inkarnationen, die anscheinend noch nicht die Erwartungen der Kritiker erfüllten. Außerdem mache ich bei T’EIN LAI und MINA mit, die Lucas aber schon ganz gut umschrieben hat. Dann habe ich noch eine neue Band namens KUST, wo wir alte slawische Gesänge während der Übergangsriten präsentieren, die von drei Sängerinnen vorgetragen werden. Diese traditionellen Gesänge haben wir in Ambient/Drone/Noise-Sounds transponiert. War irgendwas davon notwendig, um JAVVA zu gründen? Ich glaube eher, dass unsere Freundschaft am allerwichtigsten ist.
Buki: Momentan spiele ich in einem Duo mit Hubert Zemler, namens OPLA. Wir machen traditionelle polnische Folk-Dance-Musik auf verzerrten Instrumenten.
Bartek: Wir haben alle schon eine lange musikalische Karriere hinter uns bis es zur Gründung von JAVVA kam, und das ist wahrscheinlich der Schlüssel zu dem, was wir nun repräsentieren.

Auf eurer Facebook-Seite gibt es ein kleines Wortspiel mit eurem Bandnamen. Was bedeutet JAVVA?
Lucas: Für mich ist JAVVA ein guter Ort, Gewissheit und Stärke, kontrolliertes Chaos, Ehrlichkeit und Liebe.
Miko: Das polnische Wort „jawa“ kann man mit „Wachzustand“ oder „Realität“ übersetzen, das Gegenteil zu einem Traum. Semantisch ähnelt es wohl auch dem deutschen Wort „Öffentlichkeit“. Wenn Du die Kraft hast, dich mit der Realität auseinanderzusetzen oder einen Traum zu verwirklichen und Deine Wünsche umzusetzen – das ist wahre Stärke, und am Ende geht es wohl darum.
Buki: Für mich ist es die Kombination des Namens einer schönen exotischen Insel in Indonesien, einer objektorientierten Programmiersprache und der Name einer billigen, lauten (und in Osteuropa sehr populären) Motorradmarke.

Ihr habt viele unvorhersehbare Wendungen in eurer Musik. Wenn jemand den Anfang eines Songs nicht mag, ist es durchaus möglich, dass ihm oder ihr die zweite Hälfte sehr wohl gefällt. Wie läuft das bei Euch mit dem Songwriting ab?
Lucas: Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess. Wir haben keinen Anführer oder Songwriter. Jeder bringt seine Ideen mit, und wir versuchen daraus etwas Spannendes zu erschaffen. Wir arbeiten wie Architekten oder Designer, die aus scheinbar unzusammenpassenden Elementen von einem Schrottplatz etwas Schönes und Einzigartiges schaffen.
Bartek: Wir haben eine offensichtliche Neigung dazu, Dinge zu kombinieren, die nicht zusammenpassen zu scheinen, und dies ist der spannendste Aspekt in unserem Songwriting. Jeder kann jede Richtung vorschlagen, in die es gehen soll, aber es muss noch immer nach JAVVA klingen. Das ist die einzige Vorgabe.

 


Ihr habt für „Kua fu“ ein Video in einem Krimskramsladen gedreht, ihr hattet ein Konzert in einem kleinen Vintage Shop, und außerdem scheint ihr ein Faible für Achtziger Mode zu haben. Steckt hinter dieser bunten Darstellung ein Konzept, oder hat es sich so ergeben?
Buki: Für uns ist der „Kua Fu“-Ort wie der Blick in einen Spiegel. Er ist riesig und in unseren Gedanken gut versteckt. Die Realität (und der Rest Polens im speziellen) sieht sehr ähnlich aus wie dieser Ort.
Lucas: Ja, da ist was dran. Wir dachten, dass es lustig wäre, die Ästhetik der Achtziger aus „Heat Wave“, „Miami Vice“ oder „Magnum“ mit einem punkorientierten Sound und einer afrikanischen Stimmung zu kombinieren, und dies hört man auch auf „Balance of decay“. Diese Musikrichtungen erinnern mich an eine Auseinandersetzung und eine Art „Antiestablishment“ als künstlerisches Statement. Es ist interessant, dies mit der neoliberalen Blütezeit und dem Wohlstand der Achtziger zu vermischen, wie man es in Filmen wie „The wolf of Wall Street“ sehen konnte. Einige der Texte auf „Balance of decay“ handeln von der ökologischen Krise, die wir gerade beobachten. Deshalb beschlossen wir, etwas zu machen, dass sich auf die „Zero waste“-Idee bezieht, wie zum Beispiel, in einem Second Hand-Shop zu spielen oder mit alten, gebrauchten Instrumenten wie seltsam aussehenden Gitarren oder einer alten und schweren Philips Philicorda Orgel aus den Sechzigern zu spielen.

Auch Euer Cover-Artwork ist sehr bunt gestaltet und scheint afrikanische Kunst aufzugreifen. Worum geht es da genau?
Bartek: Das Gesicht des Mandrillen auf dem Cover stellt einen Gedanken dar, den wir auch in den Texten aufgreifen. Dieser Gedanke ist die Sehnsucht nach einem einfachen Leben, in dem man nicht andauernd auf Bildschirme starrt, Bitcoins zählt und virtuelle Freunde hat, die man nicht wirklich kennt. Die wahre Liebe, die reale Welt, wo man aufeinander achtet, was die Menschheit irgendwann verloren hat, in der Tierwelt aber noch existiert. Das dritte Auge steht für Spiritualität, hat aber nicht mit einer bestimmten Religion zu tun. Es steht eher für ein Feingefühl gegenüber seinen Mitmenschen, Tieren und all den Dingen, die uns umgeben. Das Auge ist verantwortlich für alles Unsichtbare, was nicht mit den anderen Sinnen registriert werden kann. Dieses schöne Cover wurde von unserem Freund, dem bekannten polnischen Designer Dawid Ryski gestaltet. Wir sind sehr glücklich, dass Dawid die Zeit dafür gefunden hat, vor allem, weil er ein vielbeschäftigter Künstler ist, der täglich für viele internationale Marken und Zeitungen seine Illustrationen abliefern muss. Er ist ein sehr talentierter Künstler, der in meinen Augen ein Cover geschaffen hat, das sehr gut zur Musik von „Balance of decay“ passt. Ich denke, dass viele das so sehen. Und es stimmt, dass die Farben und die Gesamtgestaltung stark unsere afrikanischen Einflüsse unterstreichen, aber das ist nicht so wichtig.

Eure Texte lassen vermuten, dass ihr eine politische Band seid. Würdet ihr dem zustimmen? Wie beurteilt ihr die aktuelle politische und klimapolitische Lage in Europa und insbesondere und der PiS Partei in Polen? Was wäre eure Botschaft an Politiker und die Gesellschaft?
Lucas: Eine politische Band? Vielleicht ein wenig. Ich denke, dass alles, womit wir in der Gesellschaft zu tun haben, politisch ist. Was wir essen, kaufen, wen wir wählen hat alles einen großen Einfluss auf uns als Gruppe und als Individuum. Diese Themen beschäftigen meine Arbeit als Künstler. Die politische Situation auf unserem Kontinent ist ziemlich beschissen, wenn Du an Homophobie, Rechtsextremismus, religiösen Fundamentalismus, den fehlenden Willen im Einsatz gegen den Klimawandel oder den Mangel an Ideen bezüglich des neuen Kapitalismus betrifft. Die PiS Partei in Polen ist nur ein Teil eines größeren Problems, das Europa gerade betrifft: das Aufkommen rechter, antieuropäischer, klerikaler, konservativer Regierungen. Ich hoffe, dass dies nur eine Episode der Neuzeit unseres Kontinents ist, aber ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur ein lausiger Künstler, der keine Politiker mag, weil er denkt, dass sie alle Soziopathen und Lügner sind. Irgendwer sagte, dass Macht zu Korruption führt und absolute Macht die Sache noch schlimmer macht.
Miko: Ich mag bei unserer Band nicht an eine politische Band denken. Unsere Texte sind in gewisser Weise poetisch. Soziologische, technologische und ökologische Krisen sind nicht neu. Dasselbe betrifft die Aufteilung in links und rechts. Fundamentalismus ist immer eine Gefahr – egal, wo er verwurzelt ist. Heutzutage haben die Menschen nur mehr mediale Möglichkeiten, sich darüber auszutauschen, und jeder Aspekt eines jeden Problems wird so lange verändert und ausgetauscht, bis wir im Ozean der Desinformation ertrinken. Darum geht es bei JAVVA auch – immer wieder zu hinterfragen, was gerade um uns herum passiert. Meine Botschaft an Politiker? Lest mehr wissenschaftliche Artikel und mehr Bücher, aber weniger aber weniger Machiavelli. Geht in den Wald um zu hören und nicht um zu jagen! Und die Botschaft an die Gesellschaft? Lasst Euch nicht täuschen und wieder, ernsthaft, lest mehr Bücher!

Was bedeutet die Botschaft „Javva is part of Milieu L’Acéphale“.
Lucas: „Milieu L’Acéphale“ ist ein polnisches künstlerisches Kollektiv, das aus Produzenten, Komponisten und Instrumentalisten, aber auch aus Grafikdesignern und einem Fotografen besteht. „L’Acéphale“ war der Name eines Magazins und eines Geheimbundes, gegründet 1936 in Frankreich von Georges Bataille. „Milieu L’Acéphale“ ist in gewissem Sinne eine Hommage an die Ideen von Bataille und seinen Freunden, aber für uns ist es ein Strudel aus Gedanken, Impulsen und dem lebhaften Austausch zwischen uns als Künstlern. Wir interessieren uns für grobe Kunst, die sich weit weg vom Mainstream bewegt. Die offen ist, manchmal unvollendet, die aus Improvisation entsteht, die aber auf Komposition zielt, kompromisslos, aber nicht exklusiv und manchmal sehr intuitiv.

Bisher seid ihr nur in Polen aufgetreten. Gibt es auch Pläne für eine Europa-Tour?
Lucas: Wir touren sehr viel durch Polen, aber nun ist es an der Zeit, das gute Wort quer über Europa zu verteilen! Wir arbeiten dran, und wir sind offen für Einladungen!

 

bandcamp
facebook
youtube