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Hurricane 2010 – Jennis Festivalreport

Es ist Freitag, der 18. Juni 2010. Wir befinden uns mitten im Nirgendwo, auf einem riesigen Acker in Schessel/Niedersachsen. Der Tau ist noch auf den Zelten, aus allen Ecken tönt Musik, die Ersten gehen kollektiv zum Zähneputzen, andere stehen mit ihrem halben Hausstand und vor allem einer Menge Bier an der Bändchenausgabe.
Good morning Hurricane! Es ist soweit, zum 14. Mal besticht auf dem Eichenring für drei Tage das zentrale Thema Rock&Roll. Das Lineup steht seit Wochen, die Timetables sind in den unterschiedlichsten Variationen ausgedruckt, das Camp ist eingerichtet wie für einen dreiwöchigen Familienurlaub. Der Festivalbesucher von heute ist eben vorbereitet. Die Zeiten von klein und gemütlich hat das Hurricanefestival längst hinter sich gelassen. Mit 70.000 Besuchern ist es vollzählig und neben dem Zwillingsfestival Southside und natürlich dem Festival-(Groß)vater Rock am Ring eines der größten in Deutschland. Gegen halb eins überrollt eine schwarz-rot-goldene Welle das Gelände. Der Tricolor-Schminkstift wird gezückt und jeder, der nicht schnell genug ist, darf ’Flagge’ zeigen, das Outfit wird schnell noch einmal gewechselt und los geht es.
Um 13.30 Uhr ist dann endlich Anstoß im WM-Spiel Deutschland gegen Serbien und der Campingplatz um und bei C10 wird zu einer (Sch)landschaft voller gespannter Fußballfans. Die Leinwand wirkt bei der Menschenmenge zwar eher wie ein Flachbildfernseher, aber wer rechnet schon mit 40.000 Zuschauern beim Public Viewing. So enttäuschend wie das Ergebnis, ist auch das Wetter. Der erste Regenschauer hat sich angemeldet. Den Soundtrack zum Wetter macht beim Hurricane ja bekanntlich Rolf Zukowski: „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien (…)“ Zumindest ein Gutes hat die Niederlage, das Vuvuzela-Gute-Nacht-Konzert bleibt uns allen erspart. Zurück im Camp ist es an der Zeit, einigen wesentlichen Festivalritualen nachzukommen. 1. Grillen, 2. Flunkyball, 3. Bier trinken, 4. hatten wir schon Grillen?
Aber widmen wir uns nun endlich dem Wesentlichen, der Musik. Um 15.30 Uhr geben auf der Blue Stage drei Herren aus Ayrshire den Startschuss. Es sind keine geringeren als BIFFY CLYRO. Und das so, wie wir sie kennen: smart, speziell, progressiv rockig. Mit ihrem Mix aus experimentellen Gitarrenriffs und Popelementen, wie z.B. bei „Mountains“, haben sie die Menge schnell auf ihrer Seite. Optimal zum eintanzen, denn es bleibt nicht viel Zeit. Auf der Green Stage lädt Chuck Ragan bereits zum Punkrock von HOT WATER MUSIC. Parallel zu diesem instrumentell vollmundigen Ereignis finden wir FRANK TURNER und seine Gitarre. Er singt von Frauen, dem Leben und der Liebe. Er tut es ganz alleine, nur mit Gitarre. Und es ist großartig. Aber auch Acts wie PARAMORE, THE GET UP KIDS, BAND OF SKULLS und MONEYBROTHER tragen zum gelungenen Nachmittagsprogramm bei.
Nach einer kleinen Verschnaufpause am Zelt beginnen wir mit dem Abendprogramm. Es begleiten Sie dabei: MADSEN mit ihrer neuen Single „Lass die Liebe regieren“, ENTER SHIKARI, bei deren Hit „Sorry, you´re not a winner“ alle ganz klatsch-sicher sind, SHOUT OUT LOUDS, KASHMIR, die großartigen TEMPER TRAP und die inzwischen etwas in die Jahre gekommenen K´S CHOICE. Ein Highlight des Abends ist der Auftritt der DROPKICK MURPHYS. Die 7-köpfige Folk-Punk-Band aus Boston präsentiert uns ein Portfolio ihrer besten Songs und sorgt dafür, dass vor der randvollen Green Stage kein Bein auf dem Boden bleibt. Ausgelassen geht es auch bei der Nachfolgeband und dem Headliner des Abends zu, den Beatsteaks. Bis weit auf das Festivalgelände singen und tanzen Musikbegeisterte zu Songs wie „Hand in Hand“ oder „What’s coming over you“ und selbst Papa Teutoburg-Weiß lauscht stolz vom Mischerturm. Beim letzten Song „Let me in“ fordert die Band zu etwas nicht ganz neuem auf: Bitte alle hinknien! Netterweise auch explizit aufgefordert: der sonst so strenge Securitymann. Die Stimmung ist fantastisch. TEGAN AND SARA musizieren mit unzähligen Instrumenten auf der Red Stage. Erstmalig gibt es 2010 eine vierte Bühne, die White Stage. Das Programm ist deutlich elektronisch und wechselt sich den Tag über mit einer Kunst- und Flug-Show ab. Es geben uns die Ehre FM BELFAST und der legendäre MR. OIZO, bei dem das Zelt fast aus allen Nähten platzt. Auf der Blue Stage machen MANDO DIAO den Abschluss und beglücken die Festivalbesucher mit ein wenig Indierock. Nach einer unglaublich langen Version von ‚’Dance with somebody’ tanzen die einen zurück ins Camp und die anderen bei Motorbooty, der Party vom Molotow Hamburg, im Titty Twister weiter….

Um 06.00 Uhr werde ich vom Regen wach und bin erstaunt, denn für einen kurzen Moment ist es einfach nur still. Dieser Moment ist einer der schönsten an einem Festival, denn er lässt uns zum ersten Mal realisieren, was an diesem Wochenende passiert. Schlaftrunken, der ein oder andere sicherlich auch noch betrunken, befindet man sich in einem Wechselbad der Gefühle… zerrend an einem tollen Gig vom Vorabend, schmunzelt über eine Anekdote eines Campkollegen oder einfach nur erfreut über die kurzweilige Stille. Kurzweilig ist das Stichwort, denn um 07.30 Uhr dreht ’Bernd der Griller’ bereits musikalisch die ersten Würste um und läutet somit den Samstag ein. Nach und nach kommen zerzauste Menschen aus ihren Zelten und treffen sich zu einem ausgiebigen Frühstück geprägt vom sämtlichen, was die Kühlbox hergibt. Auch Bier. Der Vormittag lässt erneut viel Zeit für Festivalrituale zu. Flunkyball wird nun in Turnieren gespielt, Kontrollrunden über das Zeltgelände laden zum Schnack im Nachbarcamp ein. Ein wichtiger Punkt an dieser Stelle: Equipmentvergleich. Bleigelakkus werden auf Herz und Nieren getestet und nach einer Fleischmahlzeit vom Grill geht es los aufs Festivalgelände. Einen sanften Einstieg geben LOCAL NATIVES und WE ARE SCIENTISTS. Erfrischend klarer Indiepoprock, der zum mitwippen animiert. Fans von Emocore und Punk kommen bei THE BLACKOUT oder SKIDRED auf Ihre Kosten. Um 14.00 Uhr steht eine fünfköpfige Band auf der Red Stage. Ihr Säger trägt eine durchaus enge schwarze Pants, kombiniert mit einem weißen Hemd und Hosenträgern. Auch die Band trägt gewagte Hosen, ebenfalls kombiniert mit Hosenträgern. Das alles klingt verrückt, das alles klingt nach TIMID TIGER. Das Publikum überzeugt bereits dieser Anblick und singt textsicher „Good morning Miss Murray- I feel good but I know your not coming“. Von „Gadget girls“ bis „Electric island“ – die Kölner Jungs steigern im Handumdrehen die Zeltinnentemperatur. Als krönenden Abschluss bringt Keshav Purushotham sogar ein kleines bisschen Bollywood in das doch sonst eher beschauliche Scheeßel.
Samstag ist der Tag der skurrilen Menschen, der Tag, den man am längsten und intensivsten erlebt. Ein Tag voller Überraschungen. So trifft man gelegentlich Gestalten aus Film und Fernsehen oder Feierwütige in Tierkostümen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Auch bei den Konzerten erlebt man so allerhand. Ich erinnere mich an eine Gruppe, die Schilder hoch hält mit der Aufschrift „Ich halte ein Schild hoch“ oder „Bitte alle knutschen“. Auch der junge Herr, der sich im Schlauchboot-Crowdsurfen versucht, war einen Hingucker wert. Die Zeit vergeht im Nu, und es ist schon wieder Zeit für die Abendshows. Schließen wir die Augen und denken an: Sommer, Sonne, Wasser, Sand, JACK JOHNSON. Auch wenn wir mitten auf dem Acker sind, ist die Stimmung wie im Urlaub. Und die Sonne lässt sich tatsächlich kurz blicken. JACK JOHNSON hat mit seinem ehrlichen, wundervollen Gesang in 75 Minuten gefühlte 25.000 Herzen gebrochen. Auf der White Stage sorgen derweilen TWO DOOR CINEMA CLUB für das Wohlbefinden und spielen einen soliden Mix aus Indierock und Elektropop. SKUNK ANANSIE überzeugen auf der Green Stage mit Stil und Power. Schon von weiten hört man die unverkennbare Stimme von Sängerin Skin und wird bei näherem Herantreten durch die straighte Bühnenperformance in ihren Bann gezogen. Musikalisch weit vorne liegen am Samstagabend THE XX, die mit einer interessanten Mischung aus Pop, Soul und New Wave ein schöne Abwechslung sind. BONAPARTE und Mr. CHARLIE WINSTON sorgen für Einlass-Stop im roten Zelt. Anders als im Zelt der White Stage, wo die Show von FRITTENBUDE aus Sicherheitsgründen abgebrochen wurde, feiern die Fans von BONAPARTE und CHARLIE WINSTON einfach vor dem Zelt mit. Da ist auch viel mehr Platz für eine Tanzeinlage bei „Like a hobo“. Final spielt neben LA ROUX und BILLY TALENT die britischen TripHopper MASSIVE ATTACK. Sie glänzen mit aufwendigen Outfits und imposanter Lichtshow. Bei manch einem Stück fühlt man sich wie in einer Meditation, bei anderen wiederum gefesselt von Gesang und Bühnenbild. Als Statement blendet die Band während der gesamten Show politische Fakten aus aller Welt ein. Ein langer Tag geht zu Ende und während ich mich gedanklich schon auf mein Zelt vorbereite, kommt wieder einmal alles anders. 150 dunkel gekleidete Menschen mit Knicklichtern laufen auf Kommando los und singen Stimmungslieder der Neuzeit. Die Gruppe verdoppelt sich schnell und entwickelt sich zu einer Prozession über das Campinggelände. Da passiert es auch schon mal, dass man seine Zähne im Takt von Disco-Pogo putzen muss. Und das mehr oder minder freiwillig… good night Hurricane.

Klappe, die dritte. Es ist Sonntag. Langsam sind wir Profis. Das Frühstück dauert länger als sonst, der letzte Rest Sekt wird noch getrunken, Kühlboxen geleert. Man könnet es auch als Ruhe vor dem Sturm bezeichnen, denn der Vormittag ist geprägt von einer Aufräum- und Einpackaktion à la Mission Impossible. Wo ist mein Stuhl? Wessen Geschirr ist das hier eigentlich? Und im Zelt werden diverse Rucksackinhalte wieder auseinander sortiert, die sich in den letzten drei Tagen den Boden bedeckend vereint haben. Im Zeitalter des Dosenpfands werden Säcke mit leeren Dosen gefüllt, die Sackkarren, Bollerwagen und sonstigen manchmal recht speziellen Transportmittel stehen zum Beladen bereit, und als Kür folgt abschließend das Abbauen des Pavillons. Menschenkaravanen ziehen sternförmig zu den Parkplätzen um ihre Sachen zu verstauen. Man spürt allgemeine Aufbruchstimmung… vorerst. Den Tag verbringen wir zu zwei Dritteln auf dem Festivalgelände.
Gitarrenlastig und bestimmend starten um zwölf Uhr GOOD SHOES auf der Green Stage. Parallel dazu gibt es geballte Frauenpower von KATZENJAMMER auf der Blue Stage. Sie spielen Instrumente, von denen so mancher lediglich Grundinformationen aus dem Musikunterricht hat. Mit Bass Balalaika, Banjo, Ukulele und diversen anderen Sachen verzaubern sie uns mit Folk-Rock der besonderen Art und Weise.
In die Gruppe extravagant reihen sich ebenfalls LA BRASS BANDA ein. Balkan-Beat-Premiere auf dem diesjährigen Hurricanefestival. Erschöpfung, das Resume der letzten zwei Tage wird immer präsenter. Man sitzt in kleinen Gruppen auf der Wiese, lässt noch einmal das Handy aufladen, trifft sich mit Freunden aus anderen Camps, um doch noch ein Konzert gemeinsam zu schauen. Alles konzentriert sich auf Musik und nicht wie sonst auf Remmi Demmi. Das kommt schließlich erst um 19.45 Uhr. Zeit überbrücken können wir mit DENDEMANN oder HORSE THE BAND. Leider weiß der Schreiber des Timetables nicht über die Parallelen des Musikgeschmacks von THE GASLIGHT ANTHEM- und PHOENIX-Fans Bescheid, so dass wir vor einer schweren Entscheidung stehen. Die einen oder die anderen. Großartig sind sie beide. First, THE GASLIGHT ANTHEM. Im Schlepptau ihr neues Album. Die Fans sind textsicher, die erste Reihe außer sich. Rockabilly-Typen reihen sich an schmachtende Mädchen, Brian Fallon weiß eben, was er tun muss, um die Menge zu dem zu bewegen, was sie tut. Feiern.
Second, PHOENIX. Die durchaus festivalerprobte Band spielt von Klassikern wie „Everything is everything“ bis hin zu Songs aus dem aktuellen Album „Wolfgang Amadeus Phoenix“ alles, was tanzbar ist und gute Laune verbreitet. Und noch ist auch die Sonne auf unserer Seite. Noch, denn bereits bei LCD SOUNDSYSTEM werde ich ein klein bisschen an die Jacobs Krönung-Werbung mit Enkelin und Oma beim Kaffeetrinken erinnert. ’Wir haben einfach im Matsch getanzt…“ „Ich war auch einmal auf einem Rockkonzert, 67 Hendrix, getanzt haben wir auch im Matsch aber meine Klamotten waren nicht hinüber, wir hatten keine an.“ Wir schon, haben uns zu viert ein rosa Regencape geteilt, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass es auch Vertreter des zweiten Statements gibt. Wie auch immer haben LCD SOUNDSYSTEM einen überwältigen Einstieg in den Abend geliefert. Elektronisch bleibt es bei FAITHLESS. Schon fast Dinos unter den Bands, aber dennoch impulsiv. Auch sie folgen dem insgeheimen Trend und setzen mit „We come one“ ein politisches Zeichen. Ein Publikum gemischt aus faszinierten und tanzenden Menschen ist anzutreffen. Fernab von Synthesizern spielen auf der Red Stage am Sonntag Helden der Jugend wie DONOTS, TURBOSTAAT, ZEBRAHEAD oder auch ASH. Es bleibt also freundlich rockig. Wie schon angekündigt gibt es um 19.45 Uhr die von den Festivalbesuchern sehnsüchtig erwarteten DEICHKIND. So wie DEICHKIND eben sind. Laut, schräg, anders. Nach Sonnenuntergang ist es Zeit für Headliner THE STROKES, THE PRODIGY und IGNITE, bevor das Wochenende zu Ende geht. Veranstalter und Besucher ziehen eine positive Bilanz und was bleibt, ist eine prägende Erinnerung von einem Wochenende der Paradiesvögel, Musik und Jugend. In diesem Sinne: Goodbye Hurricane!