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FIRST AID KIT – 10.03.2018, Hamburg (Große Freiheit 36)

Meine erste Begegnung mit den beiden Schwestern von FIRST AID KIT spielte sich in einem schwedischen Wald ab: Zwei Mädchen in Norwegerpullis saßen mit der Gitarre in der Hand unter einem Baum auf grünem Moos und sangen mit warmem Timbre und in Terzen, mit traumhaft eng ineinander verwobenen Stimmen, den „Tiger mountain peasant song“, ein Cover der amerikanischen Folkband FLEET FOXES – so berückend schön und natürlich, dass ich mich nicht nur auf die Suche nach dem ersten Album der Schwestern machte, sondern gleichzeitig die FLEET FOXES für mich wiederentdeckte.
Gestoßen war ich auf FIRST AID KIT über einen Insidertipp im Radio, von dem mir heute noch Begeisterung des Redakteurs über die „perfekte“ Harmonie des zweistimmigen Gesangs des Duos in Erinnerung geblieben ist – so ähnlich, wie aus einem Guss, und gleichzeitig so eigenartig anders können nur die Stimmen zweier Schwestern zusammen klingen. Da ich selber eine Schwester habe, deren Stimme meiner mitunter zum Verwechseln ähnlich klingt, hatte mich das besonders neugierig gemacht – und anschließend, wann immer ich FIRST AID KIT hörte, besonders berührt.
Knappe zehn Jahre später bespielen die beiden Schwedinnen Bühnen in der ganzen Welt und alle großen Festivals, produzieren ihre Songs mit Größen der Pop- und Rockmusik in den USA – und nun also auch Hamburg und die – vergleichsweise –„kleine“ Bühne der Großen Freiheit 36. Der Club ist ausverkauft – ca. 1500 Leute quetschen sich vor der Bühne und erwarten mit großer Spannung die Band. Mir fällt auf, dass erstaunlicherweise der Männeranteil insgesamt recht hoch ist – die männliche Fraktion scheint hier nicht nur in Begleitfunktion der Damen anwesend zu sein, was mich im Hinblick auf die Musikrichtung etwas wundert, aber mit Blick auf die Schwester, die in diesem Augenblick die Bühne betreten, dann doch wieder auch nicht: mit Sexappeal wird an diesem Abend schon mal nicht gegeizt.
Die ersten drei Songs verraten es, hätte man’s nicht schon gewusst: den schwedischen Wald und den Wollpullover-Charme haben Klara und Johanna Söderberg fürs erste hinter sich gelassen. Ihre Show und ihr Auftreten wirken äußerlich sehr professionell und nicht folkig-retro, wie es sich in ihren Videos manchmal andeutet, sondern eher schon fast übertrieben rockig. Ihre Outfits, kurz, Leder und Nieten, unterstreichen die rockige Attitüde, was fast schon etwas aufgesetzt wirkt und zur – übrigens hochkarätig besetzten und musikalisch hochprofessionell agierenden – Band (Melvin Duffy – Pedal Steel, Gitarre, Mandoline; Scott Simpson – Drums; Steve Moore – Keys, Posaune) als Verkörperung des „Country pur“ mit Pedal Steel Guitar, Cowboyhüten und Fransenhemden in einem merkwürdigen Widerspruch steht.
Alle Widersprüche und visuellen Irritationen lösen sich aber auf, sobald es um die Musik geht, denn hier beweisen FIRST AID KIT jenseits aller musikalischen Schubladen in erster Linie, dass sie einfach großartige und sehr begabte Musikerinnen sind, die gemeinsam einen perfekten, harmonisch „familiären“ Zusammenklang erschaffen. Auch wenn die Band einen perfekten Job macht und den Sound um den wunderbaren, von den jaulenden Pedal-Steel-Effekten geprägten Americana-Cowboy-Sound ergänzt – die Songs leben in erster Linie von dem eindrucksvollen und eigentümlichen Klang der Stimmen der Geschwister, die live genauso einen warmen und kraftvollen Sound erschaffen wie auf ihren Einspielungen. Die Stimmen klingen perfekt harmonisch zusammen. Beide besitzen eine unglaublich große und flexible Range, und während Klara meistens die Lead Vocals singt, unterstützt oder vielmehr umschmeichelt ihre etwas ältere Schwester Johanna ihre markante Stimme manchmal ober-, manchmal unterhalb und legt sich darauf wie eine samtige Decke, manchmal dunkel und warm tief unten, manchmal glasklar oben drüber, technisch einwandfrei und intonatorisch immer blitzsauber.
In ihren Songs erweisen sich FIRST AID KIT insbesondere in der momentanen Besetzung musikalisch, anders als erwartet (im Hinblick auf den musikalisch doch eher eingeschränkten Country-Folk-Sound), als überraschend vielfältig: das ist moderner Country und Folk mit Ausreißern ins Rockige (z.B. „You are the problem here“), aber auch Anlehnungen an karibisches Reggae-Feeling („Master pretender“); da entladen sich persönliche Empörung und politisches Engagement im musikalischen Beitrag zur „Me too“-Debatte in einem rockigen Appell („You are the problem here“), während bereits der nächste Song eine mit Pedal-Steel und Glockenspiel sphärisch untermalte Reflexion über eine gescheiterte Beziehung bereithält („To live a life“). Beim Klassiker „Emmylou“, dem Song, der der Country-Legende EMMYLOU HARRIS sowie anderen Größen des Country und Folk gewidmet ist, wird die Große Freiheit zum heimeligen Wohnzimmer: das Publikum singt aus vollem Herzen mit und erweist sich als text-und melodiesicher. Am Ende erklingt der Song inklusive Publikum dreistimmig; ein Moment, der für Gänsehaut sorgt.
Ein besonders starker Moment ist für mich an diesem Abend aber der offiziell letzte Song „Nothing has to be true“, eine Folk-Blues-Ballade, aus – JOAN BAEZ und BOB DYLAN lassen grüßen – nur einer Strophe bestehend, die als „Turn around“ ausnahmsweise von beiden immer abwechselnd gesungen wird, so dass zum ersten Mal auch Johannas Stimme allein klar zu hören ist. Hier löst sich die Symbiose aus den schwesterlichen Stimmen für einen Moment auf, zugleich aber wird dadurch noch einmal deutlich, wie sehr sie sich ähneln. Beide Stimmen erklingen sehr transparent und klar, begleitet zunächst sehr reduziert nur von der Leadgitarre und den liegenden Harmonien in der Pedal Steel-Gitarre und dann durch einen starken Aufschwung und den Einsatz des Schlagzeugs zum instrumentalen Höhepunkt getrieben; für mich der ausdrucksstärkste Song des Abends und damit perfekt am Ende des offiziellen Sets platziert. Nachdem ich Johannas Stimme solistisch gehört habe, fasziniert mich besonders, wie krass die musikalische Symbiose der Schwestern funktioniert: obwohl sie es mit ihrer kräftigen, manchmal strahlend hell, manchmal dunkel klingenden Stimme sicher könnte, überflügelt Johanna Klaras Leadgesang an keiner Stelle, sondern nimmt sich im zweistimmigen Gesang immer wieder so weit zurück, dass die Leadstimme klar im Vordergrund bleibt. Das ist beeindruckend und lässt mich insgesamt einen musikalisch hochkarätigen und professionellen Abend mit wunderbaren Momenten erleben, obwohl ich eigentlich kein Fan von Konzerten in großen Hallen und persönlich etwas traurig bin, dass ich die Phase der kleinen, intimen Clubkonzerte der Band leider verpasst habe… Die Schwestern sind erwachsen geworden!