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Alínæ Lumr Festival 2019 (Storkow)

Kaum waren wir nach einer sechsstündigen Autofahrt endlich wieder daheim in Hamburg angekommen, klingelte auch schon mein Handy: „Der Termin fürs nächste Alínæ Lumr steht. Wollen wir wieder buchen?“ „Natürlich! Mach fest!“ Und bereits ein paar Stunden später war unsere Pension der Wahl schon wieder komplett ausgebucht.
Was ist da immer los am letzten Augustwochenende in diesem kleinen brandenburgischen Dörfchen namens Storkow? Eine Kleinstadt mit nur knapp 10.000 Einwohner, aber an einem Wochenende im Jahr strömen etwa 2.000 Leute, zum Teil von sehr weit weg, herbei und sorgen für allgemeine Urlaubsstimmung. Doch sind es die Gäste, die für die gute Atmosphäre sorgen, oder ist es die ländliche Idylle, die vor allem Besucher aus Berlin anlockt? Ganz eindeutig lässt sich das nicht trennen, denn irgendwie tragen beide dazu bei. Das Klein-Klein von Storkow, das es sich da so beschaulich zwischen diversen Seen und Naturparks gemütlich gemacht hat, und die landflüchtigen Großstädter, die sich nach Entspannung sehnen und ausgesprochen zuvorkommend und freundlich einander begegnen. Natürlich gibt es in Storkow auch Alteingesessene, die sich das ganze Festivaltreiben eher skeptisch angucken, und AfD-Plakate, die keiner zu entfernen versucht. Zu später Stunde empfand es ein angetrunkener Mann im Rockabilly-Look zwar als lustig, seinen Gesprächspartner am Handy mit „Heil Hitler“ zu begrüßen, dafür verschwindet über Nacht aber wie spurlos das bereits erwähnte AfD-Plakat am Marktplatz. Politische Nachhilfe im kleinen Rahmen, sozusagen. Außerdem passte das Wahlplakat optisch tatsächlich nicht so gut zum taz-Stand und dem Anti-Rassismus-Zelt direkt daneben.
Doch kommen wir zur Musik. Die startete für uns, wegen der etwas stauigen Anreise, erst mit CHARLOTTE BRANDI in der Burg. Bekannt geworden mit dem inzwischen aufgelösten Duo ME & MY DRUMMER versammelte die Pianistin und Sängerin für ihr Soloprojekt eine neue Backing Band um sich herum. Wobei es sich, genau genommen, bereits um ihre zweite Backing Band handelt. Vor etwa einem Jahr präsentierte sie noch zwei Musikerinnen an Gitarre und Cello, heute jedoch bestanden ihre Kollegen ausschließlich aus Männern mit einer etwas rockigeren Instrumentierung. Was der Grund für den Besetzungswechel war, sei einmal dahingestellt. Es hält sich jedoch fest das Gerücht, dass die Multiinstrumentalistin keine allzu einfache Person sei, was vielleicht auch das Wortspiel „Me and my drama“ in Bezug auf ihre vorherige Band erklärt. Musikalisch und auch gesanglich liefert CHARLOTTE BRANDI trotz allem sehr eigenständige und abwechslungsreiche Musik ab, stets auf einem hohen Niveau, und im Vergleich gefiel mir die rockigere Bandausstattung insgesamt doch etwas besser, weil sie mehr Variationsmöglichkeiten bot und im Sound voller war.
Weiter ging es auf der kleinen Bühne am Mühlenfließ, wo SOFT GRID eine nicht gerade zugängliche Mischung aus Krautrock, Postpunk und Avantgarde ablieferten. In den guten Momenten erinnerten mich vor allem Bass und Schlagzeug in ihrem präzisen Zusammenspiel an Bands wie FUGAZI, aber wenn der Gesang hinzukam, wurde es meistens nervtötend. Schade, denn instrumental gefielen mit die Berliner mit zum Teil Storkower Wurzeln ausgesprochen gut. Insbesondere das abwechslungsreiche Schlagzeugspiel ist hier hervorzuheben.
Wesentlich massenkompatibler ging es anschließend auf der Bühne am Marktplatz zu, wo CARI CARI für eine gewisse Westernstimmung sorgten. Selbstverständlich nicht mit deutschsprachiger Countrymusik à la TRUCK STOP und GUNTER GABRIEL, vielmehr im Stile von Sechziger Roadmovies und Tarantino-Filmen. Songs wie „Summer sun“ passten jedenfalls hervorragend zu den spätsommerlichen Temperaturen in Storkow, so dass man sich an der mobilen Cocktailbar vor dem Uhrengeschäft, die wir schon aus dem letzten Jahr kannten, gerne wieder den einen oder anderen preisgünstigen Cocktail schmecken ließ. Unser Tipp: der rauchige Whiskey Sour!
Nach Mitternacht schauten wir im kleinen Burgsaal vorbei, wo die noch sehr junge AMILLI auftrat. Übrigens musste man aufpassen, dass man AMILLI nicht mit ANNELIE oder LEA AURELIE durcheinander kriegte – alle auf dem diesjährigen Alínæ Lumr dabei. Auch wenn wir anfangs das Gefühl hatten, dass AMILLI mit ihrem doch sehr poppigem R’n’B eigentlich gar nicht so gut nach Storkow passt und zudem noch den Eindruck hatten, dass auch sie sich nicht so richtig wohlfühlte, wurde das Fremdeln im Laufe des Auftritts immer weniger. Zum einen lag dies an den doch sehr zurückgelehnt souligen Songs und ihrer tollen lasziv tiefen Stimme. Wer weiß, vielleicht haben wir heute Abend einen Star von morgen gesehen, der bald in die Fußstapfen von ADELE treten wird – mit ANNENMAYKANTEREIT durfte sie immerhin schon kooperieren.
Als letzter Act des ersten Tages trat der Berliner Nicolas Peixoto als Solokünstler unter dem Namen TAKELEAVE auf und bediente auf der einen Seite diverse Synthies, griff dazwischen aber immer wieder an seine Gitarre und verband beides gekonnt miteinander. Als Ergebnis kamen sphärische Klänge mit Einflüssen aus den Genres Ambient, Electronic und Broken Beat heraus, die die Nacht langsam einläuteten. Dass der Mann hinter den Mischpulten zuvor in einer Progressive Metal-Band spielte, konnte man kaum glauben. Leider war meine Begleitung so müde (oder TAKELEAVE so überzeugend chillig), dass sie bereits ein Nickerchen im Burgsaal einlegte. Ein guter Moment, um das Bettchen aufzusuchen. Bis morgen!

Wie man einen Tag in Storkow so gestalten kann, durfte jeder am nächsten Tag selbst entscheiden. Das Wetter lud dazu ein, der Storkower See ist ja bekanntlich fußläufig erreichbar – an dieser Stelle möchten wir unbedingt darauf hinweisen, dass auch der Festival-Campingplatz sehr zu empfehlen ist. Unterschiede zu anderen Festivals: keine zusätzlichen Kosten, sehr überschaubar und idyllisch gelegen. Und am allerwichtigsten: es ist hier unglaublich ruhig!
Der zweite Festivaltag begann für uns mit einer Lesung am Mühlenfließ. Wer sich genau hinter MARKERT & F & S verbarg, erschloss sich uns nicht. Ein recht junges Trio, zum Teil wohl aus Berlin, las Geschichten vor, in denen es um Zechprellerei, die Flucht vorm Fahrkartenkontrolleur oder um Vaginaltraining ging. Ach ja, dem Lover wurde auch noch Geld entwendet. Ich weiß, man soll bei Texten ja nicht ständig hinterfragen, ob sie autobiografisch oder fiktiv sind, aber Sympathien wurden bei mir nicht wirklich geweckt, zumal sich die drei jungen AutorInnen über die eigenen Texte oft mehr amüsierten als die wenigen Zuschauer. Nun denn.
Faszinierender war da „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, ein Stummfilm aus dem Jahre 1926, der zugleich den ältesten noch erhaltenen Animationsfilm darstellt. In Form von Silhouettenschnitten wurde eine Geschichte erzählt, die an „Tausendundeine Nacht“ erinnerte und in der Kirche von Constanze Lobodzinski (Querflöte) und Anna Vavilkina (Orgel) live vertont wurde. Beeindruckend.
Danach schnell rüber zum Mühlenfließ, wo Daniel Spindler mit seinem neuen Projekt namens GRACHTEN auftrat. Mitgewirkt hat Daniel Spindler schon in zahlreichen Bands, zuletzt unter anderem bei AND THE GOLDEN CHOIR und SOMETREE. Außerdem kennt man Spindler als Mitbesitzer des Labels Sinnbus, vor allem aber als Sänger und Bassisten von DELBO. Deren Ende wurde im Sommer 2012 nach dem überraschenden Tod ihres Schlagzeugers beschlossen. Nun also Spindler solo, und tatsächlich klingen auch GRACHTEN ein wenig wie DELBO solo. Soll heißen: es bleibt Spindlers markanter Erzählgesang, dazu eine harmonisch ausgefeilte und rhythmisch sehr versierte Gitarre, die er nicht weniger beherrscht als seinen Bass. Zum Ende des Sets gab es dann tatsächlich auch noch ein Stück von DELBO zu hören. Vielleicht hätte Tobi Siebert noch hinzukommen können, doch der damalige DELBO-Gitarrist schaute lieber von der Seite aus zu.
Gedanklich waren bei diesem Stück sicherlich nicht nur die beiden in der Vergangenheit. Ein schöner Moment.
Gespannt war ich vor allem auf BLUMFELD, die ich, wenn ich mich nicht täusche, das letzte Mal vor sage und schreibe 24 Jahren im JUZ Leer gesehen habe. Damals war soeben ihr Album „L’etat et moi“ erschienen, das nach wie vor zu meinen All time Lieblingsalben zählt. Doch der Bruch nach dem Release von „Old nobody“, ihrem dritten Album, war allzu groß. Auch wenn mir viele Freunde, deren Musikgeschmack ich sehr schätze, dieses Album immer wieder nahelegen wollten – es gefiel mir selbst nach häufigem Hören nicht. Nun also, fast eine Silberhochzeit nach der Konzertpremiere, ein Wiedertreffen mit BLUMFELD. Die Band und das Publikum sichtlich gealtert, Distelmeyer selbst sichtlich gut gelaunt. Zu Beginn viele alte Lieder, hauptsächlich sogar vom Debüt „Ich-Maschine“. Revolution statt Altersmilde? Distelmeyer selbst wechselte nach jedem Song die Gitarre, was eigentlich nur wenig Sinn ergab, weil er sie anschließend stets selbst stimmen musste. Dazwischen der Kommentar: „Auf diese Gitarre habe ich mich schon den ganzen Abend lang gefreut, weil sie so gut zu meinem Jackett passt.“ In der zweiten Hälfte des Sets folgten dann doch noch die ruhigeren Sachen, als Zugabe solo und im Stile eines Thom York „Tausend Tränen tief“, bevor zum Abschluss natürlich noch „Verstärker“ folgte. „Jetset“ hätte ich mir noch gewünscht, insgesamt verlief das erste Wiedersehen nach 24 Jahren aber durchaus positiv. Muss man so auch mal festhalten.
Danach auf dem Marktplatz FOXWARREN aus Kanada, die Homies-Band von ANDY SHAUF, die zwar schon seit zehn Jahren existiert, aber erst kürzlich ihr Debütalbum auf Arts&Crafts/Anti veröffentlicht hat. Musikalisch bewegen sich die vier Kanadier in ähnlichen Gefielden wie auch Shauf solo: ruhiger Singer/Songwriter, Antifolk, immer wieder auch an ELLIOTT SMITH erinnernd, was vor allem Shaufs hoher, zarter Stimme, aber auch seinem schüchternen Auftreten geschuldet ist. So hatte es denn Anschein, dass es Shauf ganz recht war, dass der Fokus bei FOXWARREN nicht ausschließlich auf ihn gerichtet ist und er es sich am Rand der Bühne bequem machte. Ein wenig überraschend war es schon, dass sich die ruhige, melancholische Stimmung auch auf der öffentlichen Bühne am Marktplatz perfekt auf das Publikum übertrug und dabei keineswegs für Langeweile sorgte.
Die verspürten wir allerdings ein wenig bei CURTIS HARDING im Anschluss an FOXWARREN in der Burg. Selbst wenn der Soul-Sänger aus Atlanta seine Wurzeln im Garage Rock haben mag und in der Vergangenheit in einer Band mit Musikern von den BLACK LIPS spielte, so kam auf der Hauptbühne des Alínæ Lumr hauptsächlich ziemlich glatter 70s Soul rüber, dem jedoch ein wenig der Arschtrittfaktor fehlte. Zwar hatte Harding offensichtlich mit einigen Soundproblemen zu kämpfen, doch ein paar mehr Ecken und Kanten in anderer Hinsicht wären uns durchaus recht gewesen.
Zum Abschluss schauten wir noch im Burgsaal bei AQUASERGE vorbei, die mit ihrer Mischung aus Fusion Jazz, Progrock, Afrobeat und Kraut sicherlich eine der schrägsten Bands des diesjährigen Alínæ Lumr Festivals waren. Das hierbei auch Mitglieder von TAME IMPALA und STEREOLAB dabei sind, sollte man kaum glauben. Ein wenig kamen mir bei den abenteuerlichen Stil- und Rhythmuswechseln auch BATTLES und PALM in den Sinn, ohne jedoch deren Klasse zu erreichen. Als sich die Band aus Toulouse nach einer halben Stunde in einem endlosen Progrock-Ausflug befand und scheinbar nicht mehr herausfand, wurde es meiner Begleitung zu viel. Durchaus verständlich. Den dritten Festivaltag nahmen wir nicht mehr mit, da in diesem Jahr aus musikalischer Sicht nur noch der alljährliche Richardchor aus Neukölln auftrat. Da uns aber wieder eine fast sechsstündige Heimfahrt bevorstand, war dies auch nicht weiter schlimm. Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder – die Pension ist schon gebucht!